Fallbeispiel

 Mit Lernbarrieren konstruktiv umgehen 

 Das folgende Fallbeispiel zeigt: Nicht immer kommen didaktisch-methodische Interventionen als Lösung in Frage. Bei Franz K. – einem echten Fall – war es eine beraterische Intervention, die gegriffen hat. 

Männchen das nachdenkt und im Hintergrund ein rotes Fragezeichen

Was tun? (Bild: Pixabay.com/CC0)

1.    Die Situation 

Franz K., ein junger Erwachsener mit schwachem Hauptschulabschluss und nur phasenweise in Hilfsjobs tätig, nimmt an einer beruflichen Bildungsmaßnahme teil, die im Auftrag des Job-Centers durchgeführt wird. Das Job-Center hat ihn zur Teilnahme verpflichtet, bei Nichtteilnahme droht ihm eine Kürzung der „Hartz-IV-Sätze“. Franz K. ist unauffällig, kommt pünktlich zum Unterrichtsbeginn und scheint sich in Phasen der Gruppenarbeit aktiv zu beteiligen. Wird im Unterricht vom Lehrenden eine Frage direkt an ihn gestellt, antwortet er in den ersten sechs Wochen immer mit dem Standardsatz: „Woher soll ich das wissen, bin ich Jesus?“ Reagieren die Lehrenden ärgerlich, kommt der zweite Standardsatz von ihm: „Denken Sie daran: In der Ruhe liegt die Kraft!“ Die Gruppe reagiert eher erfreut als ärgerlich. 

2.    Mögliche Sichtweisen auf die Situation und darin bestehende Probleme 

  • Franz K. sucht die Provokation und will testen, welche Handlungsspielräume er in der Maßnahme hat.
  • Franz K. sucht seine Rolle in der Gruppe und hat sich entschieden, den Gruppenclown zu machen.
  • Franz K. hat Angst, eine Antwort zu geben, die als falsch zurückgewiesen wird.
  • Franz K. will seinen Ausschluss erreichen, weil er an der „Zwangsmaßnahme“ nicht teilnehmen will.
  • Die Lehrenden befürchten, dass sein Verhalten sich negativ auf die Gruppe auswirkt und er falsche Maßstäbe setzt.
  • Die Lehrenden fühlen sich vorgeführt und hilflos.


3.     Mögliche Vorgehensweisen in der Situation

  1. Die Lehrenden schlagen vor, beim Job-Center auf dem Ausschluss von Franz K. zu bestehen.
  2. Die Lehrenden einigen sich, keine Fragen mehr an Franz K. zu stellen.
  3. Die Lehrenden bitten den Psychologischen Dienst des Job-Centers um eine entsprechende Intervention, weil sie dieses Verhalten als pathologisch einschätzen.
  4. Eine erfahrende Lehrende wird von den Kollegen gebeten, ein Gespräch mit Franz K. außerhalb des Unterrichts zu führen.

4.    Herleitung und Begründung der Vorgehensweisen

  1. Das scheint die einfachste Lösung zu sein, beinhaltet aber die Gefahr, dass andere Lernende, die auch nicht freiwillig teilnehmen, sein Verhalten kopieren, mit dem Ziel, ebenfalls ausgeschlossen zu werden.
  2. Damit würde die Situation vermeintlich entschärft, aber um den Preis, dass K.s Isolation stabil festgeschrieben wird und die Lehrkräfte kaum einschätzen können, ob er Lernfortschritte macht oder nicht.
  3. Das Einschalten des Psychologischen Dienstes könnte bei Franz K. den Eindruck hervorrufen, dass er von den Lehrkräften pathologisiert und damit stigmatisiert wird. Damit würden ggf. auch ein vorhandenes, geringes Selbstbewusstsein verstärkt und zusätzliche Lernbarrieren aufgebaut. Unklar bleibt dabei auch, ob hier nicht ein pädagogisches Problem zu einem psychologischen Problem umdefiniert wird.
  4. Eine Lehrkraft sucht das Gespräch mit Franz K., auch um ihm deutlich zu machen, dass er wichtig für die Maßnahme ist. Sein Verhalten ist zwar unangemessen und provozierend, aber er soll wissen, dass er von den Lehrkräften ernst genommen wird und sie ihn in der Maßnahme halten wollen. 

Lösung 4: Das Gespräch zwischen Lehrkraft und Teilnehmer

Ein erfolgversprechendes Vorgehen ist es ein biographisch ausgerichtetes Gespräch mit dem Lernenden zu suchen: Im Gespräch, das sehr zäh anläuft, und dem Motto „In der Ruhe liegt die Kraft!“ eine gewisse Plausibilität verleiht, öffnet sich Franz K. nur in „Trippelschritten“. Ein gewisses Misstrauen gegenüber der Lehrkraft ist nicht zu übersehen. Im Gespräch wird aber schrittweise deutlich, was das Verhalten von Franz K. begründet. Er hatte in den zwei letzten Schuljahren einen Klassenlehrer, dem ein gewisses Maß an pädagogischem Sadismus zugeschrieben werden kann. Er hat Fragen an Franz K. aus der Sicht von Franz K. nur dann gestellt, wenn er sich sicher war, dass dieser die Fragen nicht beantworten kann, und der Lehrer die Möglichkeit erhält ihn vor der Klasse vorzuführen und öffentlich bloßzustellen, was er aus der Sicht von Franz K. mit Vergnügen zelebrierte.

Damit diese lernbiographisch begründete Barriere ihre Wirkung verliert, wird die Vereinbarung getroffen, dass Franz K. in den nächsten sechs Wochen nicht mehr direkt bei einer Frage angesprochen wird. Im Gegenzug verpflichtet sich K., sich freiwillig zu melden, wenn er meint, die richtige Antwort zu wissen. Die Absprache wird in einem Lernkontrakt festgehalten und es werden zwei Termine für Folgegespräche vereinbart.

CC BY-SA 3.0 DE by Gerhard Reutter und Rosemarie Klein für wb-web

Passende Wissensbausteine

Passendes Material